Bei einigen Bänden der Reihe, etwa Furor von Lutz Hübner und Sarah Nemitz, finden sich auch Empfehlungen zum Lesealter, im Falle Furor ab Klasse 9. Die Reihe Theater der Gegenwart scheint also Klassikern von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt Konkurrenz machen zu wollen. Wie sehen Sie denn die Chancen, Andorra oder Der Besuch der alten Dame aus dem etablierten Kanon zu verdrängen?Verdrängung ist eigentlich nicht das Ziel, Koexistenz wäre der Wunsch und eine höhere Variation. Die Reihe bietet zudem auch eine gute Gelegenheit, mehr weibliche Stimmen in den Unterricht zu integrieren. Altersempfehlungen gibt der Verlag übrigens nur bei den Dramen, die speziell für jüngere Schülerinnen und Schüler geeignet sind, um den Lehrerinnen und Lehrern eine erste Orientierungshilfe zu geben.
Abend über Potsdam und die unverheiratete spielen in den 1930er bzw. 1940er Jahren, sind somit historisch-politische Theaterstücke, die sich mit Schuld und Verantwortung beschäftigen. Haben Sie bei den beiden Werken auch Tipps für die Unterrichtsgestaltung? Mit welchen Aspekten kann man Schülerinnen und Schüler besonders begeistern? Während
Abend über Potsdam vom Vorabend der Machtergreifung erzählt und zeigt, wie die Menschen dem Abgrund entgegentaumeln, widmet sich
die unverheiratete auf eine sehr spezielle Art dem Ende und vor allem dem Erbe des Nationalsozialismus. Beide Werke sind damit auch für uns hoch aktuell: Zum einen ähneln einige Krisenzeichen in unseren westlichen Demokratien frappierend jenen in der Spätphase der Weimarer Republik, zum anderen sind wir noch immer auf vielen unterschiedlichen Ebenen von den Auswirkungen des NS-Systems betroffen; als nur ein Stichwort unter vielen seien da transgenerationelle Traumata genannt, die in den Opferfamilien noch immer für Leid sorgen. Ich denke, es ist nicht schwer zu erkennen, wie sehr die ausgewählten Dramen sich eignen, Schülerinnen und Schülern entdecken zu lassen, wie relevant Gegenwartsdramatik auch für ihr Leben ist – selbst wenn die Stücke von Vergangenem erzählen – und wie experimentierfreudig, wie – im besten Sinne – irritierend sie in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen sein kann.
Das Dilemma bei Gegenwartsliteratur ist oftmals die Schnelllebigkeit. Heute noch auf den Bühnen gespielt, morgen schon in Vergessenheit versunken. Ist die Reihe auch als Archiv der Gegenwartsdramatik gedacht? Sind Inszenierungen greifbar, da in der Dramendidaktik die aufgeführte Inszenierung als Vermittlungsinstanz eine große Bedeutung hat? Im Idealfall werden die Stücke heute noch inszeniert und/oder eignen sich in besonderer Weise für die Aufführung durch Schul oder Unitheatergruppen. Aber natürlich wirkt eine solche Kanonisierung – und das ist selbstredend eine, wenn ein renommierter Verlag wie Reclam Stücke auswählt und für ein breiteres Publikum verlegt – auch langfristig als Archiv. Und es ist auch ganz sicher nicht ausgeschlossen, dass sich dadurch erst nach und nach der eine oder andere neue Klassiker etabliert, der sehr langfristig in den Schulen zum Einsatz kommen kann.
Bei den Vorbereitungen der Nachworte und der Annotationen waren übrigens die Theater, an denen die Uraufführungen stattfanden, durchweg sehr entgegenkommend und haben sich auch überaus offen für Kooperationen mit Schulen gezeigt. Das kann man nutzen.
In der Paderborner Erklärung des Fachverbandes Deutsch zur Erinnerungskultur, die Sie mitinitiiert haben, geht es auch um den Stellenwert von Holocaust- und Lagerliteratur im Deutschunterricht. Gibt es Stücke, die eventuell für die Reihe Theater der Gegenwart in diesem Zusammenhang interessant wären? Bislang ist noch kein Werk in der Reihe erschienen, das man direkt zur Holocaust- und Lagerliteratur zählen könnte. Bald jedoch wird Jens Raschkes Drama
Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute (für Kinder ab 12 Jahren) in die Reihe aufgenommen werden. Dieses Stück spielt in einem Zoo neben einem Lager und bezieht sich damit parabelhaft auf das Tiergehege, das 1938 auf dem Ettersberg neben dem KZ Buchenwald errichtet worden war. Hier kann man bereits mit sehr jungen Schülerinnen und Schülern in Ansätzen erarbeiten, was damals geschah – und was das mit uns zu tun hat.