Klassik und Romantik als 'Epochen'-Problem
Die Jungfrau von Orleans des Klassikers Schiller trägt die Gattungsbezeichnung 'romantische Tragödie', während der Romantiker August Wilhelm Schlegel seinen Ion als klassizistisches Trauerspiel verstanden hat. An solchen Paradoxien wird deutlich, wie heikel es wäre, 'Klassik' und 'Romantik' gegeneinander ausspielen zu wollen. Um zwei 'Epochen' kann es sich nicht handeln, weil jede Epoche ihrer Begriffslogik nach ausschließt, dass es zur selben Zeit noch eine andere gibt – insofern sind 'Klassik' und 'Romantik' besser in ihrem Miteinander als in ihrer Konkurrenz zu begreifen: als komplementäre Stilvarianten der deutschsprachigen Poesie um 1800, die unterschiedlich auf die gemeinsame Diagnose reagieren, der Moderne sei die Natürlichkeit des glücklicheren Altertums abhanden- gekommen. Das, was aus der Wirklichkeit verschwunden ist, versucht das klassische Konzept in die Werke der schönen Kunst zu retten, während der romantische Ansatz sich solchen Ersatzlösungen verweigert:
Das Classische lebt in dem Lichte der Anschauung, knüpft das Individuum an die Gattung, die Gattung an das Universum an, sucht das Absolute in der Totalität der Welt, und ebnet den Widerstreit, in dem das Einzelne mit ihm steht, in der Idee des Schicksals durch allgemeines Gleichgewicht.
Das Romantische verweilt vorzugsweise im Helldunkel des Gefühls, trennt das Individuum von der Gattung, die Gattung vom Universum, ringt nach dem Absoluten in der Tiefe des Ichs, und kennt für den Widerstreit, in dem das Einzelne mit ihm steht, keinen Ausweg, als entweder verzweiflungsvolles Aufgeben aller Ausgleichung, oder vollkommene Lösung, in der Idee der Gnade und Versöhnung durch Wunder.
Klassik und Romantik benennen Stilvarianten von Dichtung in einem Zeitraum, der außerhalb Deutschlands ohnehin nur den Sammelnamen 'Romantik' trägt und die doctrine classique, das im 17. und frühen 18. Jahrhundert europaweit gültige Regelsystem der Literatur, verabschiedet. Auf einer höheren Abstraktionsebene mag diese weitherzig verstandene 'Romantik' einen Abschnitt der Makro-Epoche 'Moderne' bilden, an deren Beginn Dante Alighieris Divina Commedia (um 1307–21) steht. Es geht jedoch auch kleiner. In ihrer ambivalenten Ausprägung als 'klassisch' und 'romantisch' dementiert die Poesie an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert das auf Mimesis (Nachahmung) abgestellte Literaturverständnis der Aufklärer von Gottsched über Lessing bis Iffland und Kotzebue: "Der romantische Protest gegen die Aufklärung klagt einen Verlust ein: mit der Leugnung jedes grundsätzlich Anderen ihrer selbst schneidet die aufgeklärte Vernunft der Kunst den Lebensnerv ab." Demgegenüber steht das klassisch-romantische Schreiben um 1800 im Zeichen ästhetischer Autonomie und gewinnt seine – künstlerische wie gesellschaftliche – Bedeutung gerade als Einspruch gegen das Kopieren der Lebenswelt. In diesem Sinn ist es nach wie vor zweckmäßig, die 'klassischen' wie die 'romantischen' Werke als divergierende 'Teilmengen' einer Gesamtepoche 'Romantik' aufzufassen. Klassik und (Früh-)Romantik stellen sich als aufeinander bezogene Varianten einer Kunst dar, die ihren Sinn zuallererst darin sieht, sich dem Alltagstrott zu entziehen.
Das wirft die Frage nach einem zentralen 'Abgrenzungsereignis' auf, das die Epoche eröffnet. In philosophisch-weltanschaulicher Hinsicht bieten sich Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Discours sur les sciences et les arts ('Abhandlung über die Wissenschaften und Künste', 1750) und mehr noch sein Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes ('Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen', 1755) an, die beide die Vergangenheit idealisieren, um die Gegenwart abzuwerten. Zeitgleich überträgt Johann Joachim Winckelmann (1717–1768) dieses buchstäblich 'gebrochene', weil reflektierte Gegenwartsbewusstsein in seinen Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauer-Kunst auf die ästhetische Argumentation. Seitdem steht zur Debatte, ob den Künstlern der Moderne vollkommene Schönheit überhaupt noch möglich ist.
[Die Fußnoten des Textes sind nicht wiedergegeben.]